Der Fund von Mästermyr
Der Fund von Mästermyr
Die heutige Wissenschaft ist so weit, so weise und so präzise, wie nie zuvor. Das war sie aber auch aus Sicht der jeweiligen Zeitgenossen zu jedem anderen Datum zuvor, auch entwickelt sie sich ständig weiter. Schon morgen wird sie wieder einen gewaltigen Schritt nach vorn gekommen sein und es gibt keinen Grund, mit dem Finger auf die vermeintlich dummen Gelehrten von früher zu zeigen. Ihnen gebührt aller Respekt! Sie waren es, die ihr Wissen voller Enthusiasmus an ihre Schüler weitergaben, die es dann weiter entwickelten.
Bis heute. Oder morgen. 😉
Etwas über die Wissenschaft
Der jeweilige Zeitgeist setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen. Politik gehört dazu, wie auch Religion. Zugang zu Nahrung, Kleidung Bildung, das persönliche Umfeld. All‘ das (und noch viel mehr!) trägt zum jeweiligen Zeitgeist eines jeden Individuums, aber auch einer jeden Gesellschaft bei. Das hat sich bis heute nicht geändert! Wissenschaft ist ein immer fortwährender Prozess – und morgen wissen wir schon wieder mehr, als gestern oder heute noch. Lasst mich diesen Gedankengang an einem kleinen Beispiel darstellen:
Im Jahr 1930 wurde ein Himmelskörper entdeckt und unserem Sonnensystem zugeordnet: der Pluto ↗. Doch am 24. August 2006 war es so weit: Eine Kommission trat zusammen, überlegte darüber, was einen Planeten ausmacht und stellte fest, dass Pluto kein Planet des Sonnensystems mehr sein kann und ordnete ihn als Asteroid unter weiteren Asteroiden dem Kuipergürtel zu. Was ziemlich gemein war, schließlich braucht Pluto gut 248 Jahre für eine Sonnen-Umrundung… und die hätte man ihm doch wenigstens noch gönnen können, oder?
Was hat das jetzt aber mit den Schmieden zu tun?
Tja… 1936 gab es eine Entdeckung: Die Mästermyr-Kiste in einem Moorgebiet auf Gotland.
Dieser Fund verändert ungemein das Bild, das wir durch die Wissenschaft von den Menschen vermittelt bekommen haben, aus deren Zeit und Umfeld diese Kiste stammt.
Die Kiste stammt direkt aus der Wikingerzeit und es wurden über 200 Objekte darin und drumherum gefunden. Die meisten Objekte sind Werkzeuge für Schmiede- und Zimmermannsarbeiten, viele davon erkennt man sofort wieder, weil wir sie immernoch und unverändert nutzen.
Und das Buch, das ich Euch hier kurz vorstellen will, zeigt in englischer Sprache (leider gibt es davon keine Übersetzung) den Inhalt der Kiste auf: Stück für Stück. Teils als Fotografie, teils als Zeichnung. Jedes Stück wurde gemessen, gewogen, beschrieben. Querschnitte werden dargestellt, sodass man eine genaue Vorstellung des Werkzeugs erhält.
Die Fundstelle wird geologisch beschrieben, wie auch einige Fundstücke metallurgisch untersucht wurden.
Der Fund von Mästermyr
von Greta Arwidsson und Gösta Berg
Das Buch „The Mästermyr Find“ auf Amazon ↗. Beachte bitte meine Hinweise zu Affiliate-Links ↗.


Die Entdeckung
1936 wurde im Zuge der Ackerlandbeschaffung ein Moorgebiet trocken gelegt. Der Herbstboden war noch weich, als der Bauer Hugo Kraft erstmalig mit seinem Pflug seinen neuen Acker bearbeitete. Dabei stieß er auf einen alten Bronzekessel, sah ihn sich kurz an, rümpfte die Nase und warf ihn zur Seite. Es muss ordentlich gerumpelt haben, als er kurz darauf mit seinem Pflug eine Holzkiste aus dem Boden hebelte! Schweres Holz, eiserne Beschläge, eine Eisenkette herumgeschlagen und mit einem Schloss versehen, etwa 90x25cm groß und gut 20cm hoch. Das musste ein Schatz sein!
Gierig zerschlug er die Kette, öffnete den Deckel, erwartete Schmuckstücke, Gold und Silber, doch fand er nur eine „Suppe aus Rost“. Einige Stücke sah er als noch brauchbar an, nahm sie mit und lockte so irgendwie Archäologen an, die diese Stücke als Werkzeuge aus der Wikingerzeit identifizierten – also etwa um das Jahr 1.000 nach Christus.
Was ist denn jetzt so spannend an dieser Kiste? Es wird doch immer irgendwo irgendwas ausgebuddelt…

Die Deutung
Es geht darum, dass wir ein offensichtlich sehr unvollständiges Bild der Wikinger haben, was z.B. Verhaltensweisen, technische Möglichkeiten, Fertigkeiten oder eingesetzte Materialien betrifft. Die übliche Lesart beschreibt den Wikinger mal als Bauern, mal als fahrenden Händler, vor allem jedoch als kriegerischen Eroberer, aber immer als recht einfach strukturiert und wenig an feinen Künsten und Dichtung interessiert, während andernorts der Fortschritt kaum noch aufzuhalten war. Etwa wie: „draufhauen geht schneller, als lesen!“
Mit Fund der Kiste und Begutachtung des Inhalts stellt sich jedoch ein ganz anderes Bild dar. Man geht davon aus, dass ihr Besitzer ein vielseitiger Handwerker gewesen sein muss, der von Auftraggeber zu Auftraggeber reiste. Wahrscheinlich kenterte sein Boot, wo später das Moor entstand, und seine wertvolle Werkzeugkiste (seine Existenzgrundlage?) versank für ihn unerreichbar. Aufgrund des Inhalts der Kiste geht man davon aus, dass er Schmied, Zimmermann und/oder Schlosser war.
Diese Kiste stellt den größten Werkzeugfund aus der Wikingerzeit dar, über 200 Werkzeuge ließen sich entdecken: Messer, Hämmer, Beile, eine Eisenschere, ein Locheisen zur Herstellung von Nägeln, Meißel, Feilen, ein Bohrer und so weiter. Alles Werkzeuge, wie man sie heute noch in jeder Schmiedewerkstatt finden kann. Und er hatte Ambosse dabei! Zumindest nennt man einige Fundstücke so.
Nicht etwa die 50…75kg schweren Stahlklötze, die wir gerne als „Reiseamboss“ bezeichnen, nein! Er nutzte kleine, handliche Ambosse in verschiedenen Formen, die er wohl auf einen Baumstumpf legte oder sogar mit ihrem spitzen Ende in einen Baumstumpf treiben konnte. Aufgrund ihrer Größe gehe ich davon aus, dass diese Ambosse dazu gedacht waren, eher kleine Werkstücke anzufertigen oder um vorgefertigte Stücke aus seiner Werkstatt beim Auftraggeber fertig zu richten. Er war wohl weniger der Schmied, der morgens die gesamte Nachbarschaft weckte, sondern wohl eher der Schmied, der Nägel, Schlösser, Winkel und Beschläge herstellte, sich vielleicht noch ein Ziehmesser für seine Holzarbeiten machte oder die Sense eines Bauern schärfte. Vielleicht passte er auch als Zimmermann eiserne Beschläge beim Kunden auf der fernen Baustelle an, die er in seiner Schmiede im Heimatdorf vorbereitet hatte. So genau lässt sich das momentan leider nicht herausfinden.

Die Bügelsäge
Problematisch an dieser Sicht der Dinge: Der gemeine Wikinger muss wesentlich cleverer gewesen sein, als gelehrt und allgemein angenommen wird. Wenn es stimmt, dass er sich vom aufblühenden Rest Europas weitgehend fern gehalten hat… Tja, dann muss er schon von allein auf die Idee und den möglichen Nutzen einer Bügelsäge mit wechselbaren Sägeblättern gekommen sein, genauso wie er sich selbst Gedanken gemacht haben muss, wie Sägeblätter für verschiedene Materialien auszusehen haben, wie man solche Sägeblätter herstellt (auch, dass die Blätter immer die gleiche Länge haben müssen, sonst können sie nicht gespannt werden), welche Werkzeuge man eben dazu braucht und wie man eben diese herstellt. Wenn man länger darüber nachdenkt, ist eine Bügelsäge schon wieder ein reichlich komplexes Thema für sich, denn die Frage nach dem Huhn oder dem Ei (und was davon zuerst da war) kennt nun jeder. Nur halt die Antwort darauf nicht.
Er ist ein verkanntes Genie, unser fahrender Handwerker – aber viel Geschichte muss erst noch entdeckt werden und die Wissenschaft lernt täglich hinzu. Bleiben wir also gespannt, aufmerksam und offen für neue Ideen und Erkenntnisse, lasst uns die alten Wissenschaftler und Lehrer ehren und lasst uns aus der Vergangenheit heraus offen in die Zukunft sehen – und, so wie Pluto, unseren fahrenden Handwerker aus der Wikingerzeit seine eigene Geschichte erzählen lassen, aus der wir lernen können.